"Die Entschlackung der Welt"
Helene Harth
Helene Harth
2013
(...) Um Fernanda Mancinis Bilder zu verstehen, sollten Sie aber in erster Linie Ihren eigenen Augen vertrauen, sie sollten hinschauen und ihren Empfindungen beim Betrachten dieser auf den ersten Blick geheimnisvollen Kollagen nachspüren. Was sie selbst sehen, ist wichtiger als das, was Andere Ihnen über das Gesehene erzählen, und seien es die größten Kunstspezialisten.
Ich
will ihnen deshalb auch keinen kunsthistorischen Vortrag über Fernandas Bilder
halten, zumal ich keine Kunsthistorikerin, sondern eine kunstbegeisterte
Freundin der Malerin bin. Stattdessen möchte ich Ihnen berichten, wie diese Bilder auf mich
gewirkt haben, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Das war an einem tief
verschneiten Wintertag im Nationalmuseum in Stettin. Dort wurde eine
Ausstellung von Fernandas Bildern vorbereitet, die aber noch nicht begonnen
hatte. Ich war allein mit den Bildern in einem sehr schönen runden, weißen
Ausstellungsraum. Man konnte die Bilder nacheinander abschreiten wie die
Stationen eines Kreuzweges und dass von ihnen so etwas wie eine religiöse
Ausstrahlung ausging, deutete ja bereits
der Titel der Ausstellung an: Der Raum, Die Dinge, Die Fragmente. Im Bereich
des Heiligen. Der stumme Blickkontakt mit Fernandas Kollagen erinnerte mich an
eine weit zurückliegende und fast verschüttete Erfahrung, die plötzlich wieder
an die Oberfläche kam. Diese Erfahrung kann, wie ich glaube, dazu beitragen,
sich der Kunst Fernanda Mancinis zu nähern.Um sie Ihnen zu beschreiben, muss
ich allerdings ein klein wenig weiter ausholen.
(...)
Haben Sie dieses Bedürfnis nach einer Entschlackung und produktiven Verarmung
der Welt vielleicht auch schon einmal
selbst in sich verspürt? Ich selbst habe ihn mir erfüllt, als ich mehrere
Sommer mit einem Künstler in der Provence lebte. Mein Zimmer für mich allein,
um mit der Schriftstellerin Virginia Wolfe zu sprechen, war ein ehemaliger
Schafstall, ein schöner, großer Raum mit einem Fussboden aus Beton und weißen
Wänden. Es gab nur eine Holzplatte auf Böcken und ein Brett auf Backsteinen für
ein paar Bücher und einen Stuhl. Kein Telefon, kein Radio, kein Fernsehen,
keinen Computer. Die Wirkung war verblüffend: die Zeit dehnte sich ins
Unendliche. Die Stille räumte mein überfrachtetes Inneres leer und schuf Platz
für ganz neue Gedanken und Gefühle, für einen neuen Blick auf mich selbst und
meine Umgebung, sogar für eine neue Art zu schreiben.
An diese Erfahrung erinnerte mich der Anblick
von Fernanda Mancinis Bildern in dem
noch leeren Ausstellungsraum im winterlich verschneiten Stettin.
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