Der Raum jenseits des Raums.
Die poetische Heterotopie
Fernanda Mancinis
von Diana Del Mastro
Zenons Problem
fordert ja eine Erörterung: Wenn jegliches Seiende an einem Orte ist, so muss es
zweifellos auch einen Ort für den Ort geben, und so fortgehend ins Unendliche.
Aristoteles, Physikvorlesung, Buch IV, 3, übersetzt
von Hans Wagner, Darmstadt 1979, S. 84
von Hans Wagner, Darmstadt 1979, S. 84
Über das Unsichtbare
und über das Sterbliche haben die Götter Gewissheit, als Menschen ziehen wir
Schlüsse.
Diogenes Laertios, Das philosophische Denken der griechischen Vorsokratiker: Alkmaion VIII,
83, übersetzt von Egon Gottwein
In der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts geht in der Kunst ein tiefer Riss durch die Textur von
Gemälden und Skulpturen. Neue künstlerische Tendenzen setzen sich durch, die
trotz aller Ausdifferenziertheit einen gemeinsamen Nenner haben, nämlich die
Suche nach einem neuen Weg, die Welt zu deuten. Zu den interessantesten Erscheinungen
in diesem Sinne gehört die Konzeptkunst, eine Kunst, die die künstlerischen
Werte im herkömmlichen Sinn zunichte macht und das Augenmerk stattdessen auf
die erkenntnistheoretischen Aspekte im schöpferischen Tun lenkt, das nicht nur
als ‚ästhetisch’ zu verstehen ist. Dabei handelt es sich keineswegs um simple, zum
Scheitern verurteilte Manierismen. Die Künstler dieser Bewegung stützen ihre
Experimente auf eine Erkundung der Form, der Farbe und des Raums statt des
Objekts an sich. Mit der Konzeptkunst wird die Idee wichtiger als ihre konkrete
Umsetzung, in entmaterialisierender Funktion. Das Objekt (sowohl das
industriell hergestellte als auch das in ‚ästhetischer’ Absicht erzeugte) wird
inflationiert, es wird als hedonistisch und verspielt abgelehnt zu Gunsten eines
Ansatzes, der subtiler, wahrnehmbarer, introspektiver, rätselhafter ist und auf
die Welt der Phänomene anspielt. Aufgabe der Kunst ist nicht die getreue
Nachbildung der Natur, reine Mimesis der Phänomene, Replik des retinal Sichtbaren.
Vielmehr besteht sie nach Auffassung der Konzeptkunst darin, zur ‚Urgeschichte
des Sichtbaren’ zurückzuführen, „zur Genesis als Entwicklungsprozess, zur
Gestaltung, die jeder Gestalt vorausgeht, zur Urkeimung elementarer Kräfte, die
die schöpferische Tätigkeit des Künstlers in einer sichtbaren Welt der
Bedeutungen zu gestalten vermag“,[1]
wobei das Unsichtbare als unendliche Möglichkeit des Bildes entlarvt wird.
Um
es mit Klee zu sagen: Kunst macht
sichtbar[2]
durch den Gestus des Malens. Sie macht den Rhythmus des Kosmos sichtbar, die
Mit-Möglichkeit und Gleichzeitigkeit der in ihm sich generierenden chaotischen
Kräfte, die der Künstler durch das Malen einzufangen versucht,[3]
und wenn es ihm gelingt, diese Kräfte zu erfassen, moduliert er sie im figurativen
Sinn, durch das Räumen, das Eröffnen
von Ausblicken, die Freigabe von Orten.[4]
Martin
Heidegger schrieb: „Das Offene, Freie, Durchscheinende beruht nicht im
Räumlichen, sondern umgekehrt beruht das Räumliche im Offenen und Freien.“[5]
Der Künstler muss also eine Bresche schlagen, den Weg ebnen, um seinen
geistigen Raum zum Ausdruck zu bringen, und in seiner Offenheit zur Welt öffnet
er eine Welt: Räumen bedeutet bei
Heidegger, Orte freizusetzen, wie jeder Künstler dies tut, wenn er seine
inneren Bilder prägt und plastisch verwirklicht, indem er neue Räume des ‚Wirklichen’
entfaltet.[6]
Der
von der Künstlerin Fernanda Mancini eingenommene Blickwinkel, der sich von der resoluten
heideggerschen Milde leiten lässt, [7]
um neuartige räumliche Empfindungen entstehen zu lassen, besteht aus einem
schwarzen Farbhintergrund, einer Metapher des Dunklen, der Nacht: Wenn die Welt
der Vernunft, des wachen Bewusstseins mit dem Tag gleichzusetzen ist, kommen
vor dem dunklen, nächtlichen Hintergrund ihrer Werke die herkömmlichen
Kausalbeziehungen zwischen den Phänomenen abhanden. Die Nacht als Reich der Emotionalität,
der Empfindsamkeit ist eine Dimension der Offenbarung ungeahnter Möglichkeiten
des Daseins. Mit dem ihr eigenen Vokabular begibt sich Mancini auf eine
Erkundung der Möglichkeiten, auf der Suche nach unendlichen Seinsmöglichkeiten
der die Wirklichkeit bildenden Seienden die Kategorien des euklidischen Raumes zu
überwinden. Damit befindet sie sich auf den Spuren Heideggers, der schrieb:
„Orientierung hat etwas zu tun mit dem Aufgehen der Sonne. […] Mit Aufgang der
Sonne wird es hell, alles wird sichtbar: die Dinge scheinen […]. Wenn das Licht
ausgeschaltet wird, wie ist es dann mit der Lichtung […]. Auch im Dunkeln gibt
es Lichtung. Lichtung hat nichts zu tun mit Licht, sondern kommt von ‚leicht’.
Licht hat mit Wahrnehmung zu tun. Im Dunkeln kann man noch anstoßen. Das
braucht kein Licht, aber eine Lichtung. Licht – hell; Lichtung kommt von
leicht, frei machen.“[8]
Das
Schwarz–Dunkel ermöglicht es, sich den von der Materie auferlegten Fesseln zu
entziehen: Die Sichtbarkeit des Sichtbaren, jene Erfahrung der Repräsentation,
die in den Kategorien der Tageswelt erlebt und von diesen geregelt wird, jene
Welt, die wir zu ‚sehen’ annehmen und die uns vertraut erscheint, verliert ihren
Zusammenhalt, wenn sie nicht mehr vom Licht erhellt wird. In den Bildern der
Künstlerin fühlt sich der Betrachter nicht mehr heimisch, eher unheimlich
angesichts einer Welt von Dingen, die er nicht beherrschen kann, einer Welt,
die entfremdend und verstörend wirkt, die im Sichtbaren verborgen ist und sich
nicht auf das Sein des Daseins reduzieren lässt.
Anders
als die Künstler der Vergangenheit, die tendenziell auf eine naturalistisch-perspektivische
Darstellung der Welt fokussiert waren und kompakte Volumina und deutlich
unterscheidbare Tiefen zur Geltung bringen wollten, ist das Werk Fernanda
Mancinis von der ‚Entmaterialisierung’ der Gegenstände gekennzeichnet, die an
einem neuen Raum mitbeteiligt sind: Die Gegenstände verlieren Gewicht und
Konsistenz und werden zu imaginären Fiktionen, dazu erdacht, die Quelle zu
entschleiern, den paradoxen Ort, dem sie entspringen. Wir haben es mit einem
Gefühl der Dunkelheit, des Geheimnisvollen und der Verwirrung zu tun, wo „die
Nacht nicht das negative Ergebnis des sich zurückziehenden Lichts ist, sondern
das positive Erscheinen eines dunklen Überwurfs, der das Licht überkommt und an
seine Stelle tritt“.[9]
Die
Entscheidung, sich den unzähligen existenziellen Möglichkeiten zu öffnen, die
das Schwarz-Dunkel zulässt, erweist sich als Versuch, sich der Starrheit des
von einem statischen Licht geprägten absoluten Raumes der Renaissance zu
widersetzen. Für Panofsky ist die Perspektive ein „zweischneidiges Schwert: Sie
schafft den Körpern Platz, sich plastisch zu entfalten und mimisch zu bewegen –
aber sie schafft auch dem Lichte die Möglichkeit, im Raum sich auszubreiten und
die Körper malerisch aufzulösen“;[10]
sie schafft eine Distanz zwischen dem Menschen und der Welt, aber sie hebt
diese Distanz doch wiederum auf, indem sie die dem Menschen in selbstständigem
Dasein gegenüberstehende Dingwelt gewissermaßen in sein Auge hineinzieht.
Dieses
Verhältnis ist vielmehr herkömmlicher Art, es ist willkürlich: Forschungen im
Bereich der Physik haben den Nachweis erbracht: „Die Phänomene haben […] in der
Atomphysik eine neue Eigenschaft der Ganzheit, indem sie sich nicht in
Teilphänomene zerlegen lassen, ohne das ganze Phänomen dabei jedes Mal
wesentlich zu ändern.“[11]
Fernanda
Mancini widersetzt sich einer Rationalisierung der Bilder, die dem Licht und
einem einheitlichen, messbaren Sichtraum ausgesetzt sind, in einem einzigen ‚Quantum
continuum’. Sie versucht vielmehr, eine Einheit der Erfahrung des wahrnehmenden
Subjekts und der außerhalb des Bewusstseins bestehenden Phänomene zu bewahren,
in einer Vorstellung von der ursprünglichen Unteilbarkeit des Ganzen, der Ganzheit.
Für die Naturwissenschaft nach Galilei und Newton ist der Raum nämlich
vorstellbar „als eine gleichförmige ‚dreidimensionale Ausdehnung’ wegen der
Bewegung der Massenpunkte“, die den Orten keine Freiheit lässt, „die Trennung
der möglichen Positionen und Richtungen zu bestimmen“.[12]
Wie Heidegger aufzeigt, wird die Raumgröße extensio
zum Behältnis, das sich zu den Körpern in Hinblick auf die „Ausdehnung in Höhe,
Länge und Tiefe verhält, die sich aber noch einmal abziehen lässt, nämlich auf
analytisch-algebraische Relationen“.[13]
Mancinis
künstlerische Erkundung distanziert sich von dieser homogenen und statischen Sicht
des Raumes, um die Möglichkeit einer originären Dimension zu erkunden, eine
Lichtung aufzutun auf der Suche nach einer wesenseigenen Räumlichkeit als Öffnung
zum Sein: „Der Raum als Be-rückung soll uns an dieser Stelle nicht als
spekulative Extravaganz erscheinen, sondern als der Versuch, in bestimmterer
Weise jene Duplizität neu zu formulieren, die als Ort der Beziehung zwischen
Mensch und Sein zur Wahrheit gehört.“[14]
Die
Entscheidung für die Farbe Schwarz unterbricht das herkömmliche Verhältnis zwischen
Licht und Materie, zwischen Gegenstand und geometrischem Raum: In dem so konzipierten
multidimensionalen Raum sind die Gegenstände, die die Szenerie der Bilder
bevölkern, de-substanzialisiert, ihrer Gebrauchsfunktion enthoben, ent-lagert,
in das poetische Fragment einer dynamischen Beziehung mit dem die Welt
erfahrenden Subjekt verwandelt, in einer Umgebung ohne geometrische
Koordinaten.
Die
Dinge besitzen keine Schwerkraft, sie schweben im Dunkel der Imagination. Gegenstände
und Fragmente verteilen sich - trotz des
Auges, das nach einem spezifischen Zentrum verlangt - im Raum der Bilder auf
exzentrische und unregelmäßige Weise, auf der Suche nach etwas Verbindendem,
nach einem Grundprinzip, das ein Nebeneinander-Bestehen zulässt, die
Mit-Möglichkeit widersprüchlicher Daseinsweisen. Im multidimensionalen Raum
stehen die Weltdinge nicht in einer physikalisch-räumlichen Beziehung
zueinander, sondern in einer neuen Verbindung, die ihrerseits neuartige
Daseinsmöglichkeiten der Dinge selbst enthüllt. Der Gegenstand ist nicht
allein, sondern Pol einer durch die räumliche Exzentrizität herausgestellten
Beziehung, in der das Gesetz der Welt, das Kausalitätsprinzip, seine absolute
Gültigkeit verloren hat, da „jene Kontinuität im Dasein eines individuellen
Gegenstandes stets das Produkt einer vom erkennenden Subjekt ausgeführten
Handlung ist und nie als eine Tatsache der objektiven Wirklichkeit erklärt werden
kann“.[15]
Es ist diese Erfahrung des Luftholens, eine Pause im nihilistischen Fluss der
Zeit, die uns laut Vinci retten kann, allerdings unter der Bedingung, uns an die
Dinge „für sich und nicht für uns selbst“ heranzutasten, zuzulassen, dass sie
sich „in ihrer Einzigartigkeit und Geringfügigkeit zeigen, und das Zuviel an
Gegenständen und Gerede, das uns umgibt, auszusetzen“.[16]
[1] Marco Vozza, Le forme del visibile:
filosofia e pittura da Cézanne a Bacon, Florenz 1999, S. 23.
[2] „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar“,
Paul Klee, Schöpferische Konfession,
in: Tribüne der Kunst und der Zeit.
Eine Schriftensammlung, hrsg. von Kasimir
Edschmid, Berlin 1920.
[3] „Der Maler durchsteht eine Katastrophe oder eine Feuersbrunst und
hinterlässt auf der Leinwand die Spur davon wie vom Sprung, der ihn vom Chaos
zur Komposition führt“, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 1996, S. 240.
[4] „Räumen ist Freigabe von Orten“, vgl. Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969.
[5] Martin Heidegger, Zollikoner
Seminare, Frankfurt am Main 1987, S. 9.
[6] Vgl. Salomon Resnik, Spazialità e prospettive dell’esperienza estetica, in: L’avventura estetica. Prospettive sull’arte,
Mailand 2002, S. 9-13.
[7] Paolo Vinci, Die
Dinge Die Orte, in D. Del Mastro (Hrsg.), Fernanda Mancini. Der Raum die Dinge die Fragmente.
Im Bereich des Heiligen, Stettin 2011, S. 23.
[8] M. Heidegger, Zollikoner
Seminare, a.a.O., S. 16.
[9] Lorenzino Cremonini, Lo spazio della luce, Florenz 2005, S. 11.
[10] Erwin Panofsky, Die Perspektive
als „symbolische Form". In: Vorträge
der Bibliothek Warburg 1924/1925, Leipzig & Berlin 1927, S. 123.
[11] Wolfgang Pauli, Naturwissenschaftliche
und erkenntnistheoretische Aspekte der Ideen vom Unbewußten, in:
Aufsätze und Vorträge über Physik und
Erkenntnistheorie, Braunschweig 1961, S. 115.
[12] Paolo Vinci, Spazio
e verità in Heidegger, in: Guido Coccoli, Anna Ludovico, Caterina Marrone
(Hrsg.), La mente, il corpo e i loro
enigmi: saggi di filosofia, Rom 2007, S. 372.
[13] Ebd. [eigentlich aus den Zollikoner Seminaren]
[14] Paolo Vinci, Spazio e verità in Heidegger,
a.a.O., S. 376.
[15] Paul Watzlawick, Die erfundene
Wirklichkeit: wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum
Konstruktivismus, München 1981.
[16] Paolo Vinci, Die
Dinge Die Orte, a.a.O., S. 23.