venerdì 21 novembre 2014

saggio su Fernanda Mancini di Diana Del Mastro






              Der Raum jenseits des Raums.

Die poetische Heterotopie Fernanda Mancinis

von Diana Del Mastro

 

 

Zenons Problem fordert ja eine Erörterung: Wenn jegliches Seiende an einem Orte ist, so muss es zweifellos auch einen Ort für den Ort geben, und so fortgehend ins Unendliche.

Aristoteles, Physikvorlesung, Buch IV, 3, übersetzt
von Hans Wagner, Darmstadt 1979, S. 84

 

Über das Unsichtbare und über das Sterbliche haben die Götter Gewissheit, als Menschen ziehen wir Schlüsse.

Diogenes Laertios, Das philosophische Denken der griechischen Vorsokratiker: Alkmaion VIII, 83, übersetzt von Egon Gottwein

 


 

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht in der Kunst ein tiefer Riss durch die Textur von Gemälden und Skulpturen. Neue künstlerische Tendenzen setzen sich durch, die trotz aller Ausdifferenziertheit einen gemeinsamen Nenner haben, nämlich die Suche nach einem neuen Weg, die Welt zu deuten. Zu den interessantesten Erscheinungen in diesem Sinne gehört die Konzeptkunst, eine Kunst, die die künstlerischen Werte im herkömmlichen Sinn zunichte macht und das Augenmerk stattdessen auf die erkenntnistheoretischen Aspekte im schöpferischen Tun lenkt, das nicht nur als ‚ästhetisch’ zu verstehen ist. Dabei handelt es sich keineswegs um simple, zum Scheitern verurteilte Manierismen. Die Künstler dieser Bewegung stützen ihre Experimente auf eine Erkundung der Form, der Farbe und des Raums statt des Objekts an sich. Mit der Konzeptkunst wird die Idee wichtiger als ihre konkrete Umsetzung, in entmaterialisierender Funktion. Das Objekt (sowohl das industriell hergestellte als auch das in ‚ästhetischer’ Absicht erzeugte) wird inflationiert, es wird als hedonistisch und verspielt abgelehnt zu Gunsten eines Ansatzes, der subtiler, wahrnehmbarer, introspektiver, rätselhafter ist und auf die Welt der Phänomene anspielt. Aufgabe der Kunst ist nicht die getreue Nachbildung der Natur, reine Mimesis der Phänomene, Replik des retinal Sichtbaren. Vielmehr besteht sie nach Auffassung der Konzeptkunst darin, zur ‚Urgeschichte des Sichtbaren’ zurückzuführen, „zur Genesis als Entwicklungsprozess, zur Gestaltung, die jeder Gestalt vorausgeht, zur Urkeimung elementarer Kräfte, die die schöpferische Tätigkeit des Künstlers in einer sichtbaren Welt der Bedeutungen zu gestalten vermag“,[1] wobei das Unsichtbare als unendliche Möglichkeit des Bildes entlarvt wird.

Um es mit Klee zu sagen: Kunst macht sichtbar[2] durch den Gestus des Malens. Sie macht den Rhythmus des Kosmos sichtbar, die Mit-Möglichkeit und Gleichzeitigkeit der in ihm sich generierenden chaotischen Kräfte, die der Künstler durch das Malen einzufangen versucht,[3] und wenn es ihm gelingt, diese Kräfte zu erfassen, moduliert er sie im figurativen Sinn, durch das Räumen, das Eröffnen von Ausblicken, die Freigabe von Orten.[4]

Martin Heidegger schrieb: „Das Offene, Freie, Durchscheinende beruht nicht im Räumlichen, sondern umgekehrt beruht das Räumliche im Offenen und Freien.“[5] Der Künstler muss also eine Bresche schlagen, den Weg ebnen, um seinen geistigen Raum zum Ausdruck zu bringen, und in seiner Offenheit zur Welt öffnet er eine Welt: Räumen bedeutet bei Heidegger, Orte freizusetzen, wie jeder Künstler dies tut, wenn er seine inneren Bilder prägt und plastisch verwirklicht, indem er neue Räume des ‚Wirklichen’ entfaltet.[6]

Der von der Künstlerin Fernanda Mancini eingenommene Blickwinkel, der sich von der resoluten heideggerschen Milde leiten lässt, [7] um neuartige räumliche Empfindungen entstehen zu lassen, besteht aus einem schwarzen Farbhintergrund, einer Metapher des Dunklen, der Nacht: Wenn die Welt der Vernunft, des wachen Bewusstseins mit dem Tag gleichzusetzen ist, kommen vor dem dunklen, nächtlichen Hintergrund ihrer Werke die herkömmlichen Kausalbeziehungen zwischen den Phänomenen abhanden. Die Nacht als Reich der Emotionalität, der Empfindsamkeit ist eine Dimension der Offenbarung ungeahnter Möglichkeiten des Daseins. Mit dem ihr eigenen Vokabular begibt sich Mancini auf eine Erkundung der Möglichkeiten, auf der Suche nach unendlichen Seinsmöglichkeiten der die Wirklichkeit bildenden Seienden die Kategorien des euklidischen Raumes zu überwinden. Damit befindet sie sich auf den Spuren Heideggers, der schrieb: „Orientierung hat etwas zu tun mit dem Aufgehen der Sonne. […] Mit Aufgang der Sonne wird es hell, alles wird sichtbar: die Dinge scheinen […]. Wenn das Licht ausgeschaltet wird, wie ist es dann mit der Lichtung […]. Auch im Dunkeln gibt es Lichtung. Lichtung hat nichts zu tun mit Licht, sondern kommt von ‚leicht’. Licht hat mit Wahrnehmung zu tun. Im Dunkeln kann man noch anstoßen. Das braucht kein Licht, aber eine Lichtung. Licht – hell; Lichtung kommt von leicht, frei machen.“[8]

Das Schwarz–Dunkel ermöglicht es, sich den von der Materie auferlegten Fesseln zu entziehen: Die Sichtbarkeit des Sichtbaren, jene Erfahrung der Repräsentation, die in den Kategorien der Tageswelt erlebt und von diesen geregelt wird, jene Welt, die wir zu ‚sehen’ annehmen und die uns vertraut erscheint, verliert ihren Zusammenhalt, wenn sie nicht mehr vom Licht erhellt wird. In den Bildern der Künstlerin fühlt sich der Betrachter nicht mehr heimisch, eher unheimlich angesichts einer Welt von Dingen, die er nicht beherrschen kann, einer Welt, die entfremdend und verstörend wirkt, die im Sichtbaren verborgen ist und sich nicht auf das Sein des Daseins reduzieren lässt.

Anders als die Künstler der Vergangenheit, die tendenziell auf eine naturalistisch-perspektivische Darstellung der Welt fokussiert waren und kompakte Volumina und deutlich unterscheidbare Tiefen zur Geltung bringen wollten, ist das Werk Fernanda Mancinis von der ‚Entmaterialisierung’ der Gegenstände gekennzeichnet, die an einem neuen Raum mitbeteiligt sind: Die Gegenstände verlieren Gewicht und Konsistenz und werden zu imaginären Fiktionen, dazu erdacht, die Quelle zu entschleiern, den paradoxen Ort, dem sie entspringen. Wir haben es mit einem Gefühl der Dunkelheit, des Geheimnisvollen und der Verwirrung zu tun, wo „die Nacht nicht das negative Ergebnis des sich zurückziehenden Lichts ist, sondern das positive Erscheinen eines dunklen Überwurfs, der das Licht überkommt und an seine Stelle tritt“.[9]

Die Entscheidung, sich den unzähligen existenziellen Möglichkeiten zu öffnen, die das Schwarz-Dunkel zulässt, erweist sich als Versuch, sich der Starrheit des von einem statischen Licht geprägten absoluten Raumes der Renaissance zu widersetzen. Für Panofsky ist die Perspektive ein „zweischneidiges Schwert: Sie schafft den Körpern Platz, sich plastisch zu entfalten und mimisch zu bewegen – aber sie schafft auch dem Lichte die Möglichkeit, im Raum sich auszubreiten und die Körper malerisch aufzulösen“;[10] sie schafft eine Distanz zwischen dem Menschen und der Welt, aber sie hebt diese Distanz doch wiederum auf, indem sie die dem Menschen in selbstständigem Dasein gegenüberstehende Dingwelt gewissermaßen in sein Auge hineinzieht.

Dieses Verhältnis ist vielmehr herkömmlicher Art, es ist willkürlich: Forschungen im Bereich der Physik haben den Nachweis erbracht: „Die Phänomene haben […] in der Atomphysik eine neue Eigenschaft der Ganzheit, indem sie sich nicht in Teilphänomene zerlegen lassen, ohne das ganze Phänomen dabei jedes Mal wesentlich zu ändern.“[11]

Fernanda Mancini widersetzt sich einer Rationalisierung der Bilder, die dem Licht und einem einheitlichen, messbaren Sichtraum ausgesetzt sind, in einem einzigen ‚Quantum continuum’. Sie versucht vielmehr, eine Einheit der Erfahrung des wahrnehmenden Subjekts und der außerhalb des Bewusstseins bestehenden Phänomene zu bewahren, in einer Vorstellung von der ursprünglichen Unteilbarkeit des Ganzen, der Ganzheit. Für die Naturwissenschaft nach Galilei und Newton ist der Raum nämlich vorstellbar „als eine gleichförmige ‚dreidimensionale Ausdehnung’ wegen der Bewegung der Massenpunkte“, die den Orten keine Freiheit lässt, „die Trennung der möglichen Positionen und Richtungen zu bestimmen“.[12] Wie Heidegger aufzeigt, wird die Raumgröße extensio zum Behältnis, das sich zu den Körpern in Hinblick auf die „Ausdehnung in Höhe, Länge und Tiefe verhält, die sich aber noch einmal abziehen lässt, nämlich auf analytisch-algebraische Relationen“.[13]

Mancinis künstlerische Erkundung distanziert sich von dieser homogenen und statischen Sicht des Raumes, um die Möglichkeit einer originären Dimension zu erkunden, eine Lichtung aufzutun auf der Suche nach einer wesenseigenen Räumlichkeit als Öffnung zum Sein: „Der Raum als Be-rückung soll uns an dieser Stelle nicht als spekulative Extravaganz erscheinen, sondern als der Versuch, in bestimmterer Weise jene Duplizität neu zu formulieren, die als Ort der Beziehung zwischen Mensch und Sein zur Wahrheit gehört.“[14]

Die Entscheidung für die Farbe Schwarz unterbricht das herkömmliche Verhältnis zwischen Licht und Materie, zwischen Gegenstand und geometrischem Raum: In dem so konzipierten multidimensionalen Raum sind die Gegenstände, die die Szenerie der Bilder bevölkern, de-substanzialisiert, ihrer Gebrauchsfunktion enthoben, ent-lagert, in das poetische Fragment einer dynamischen Beziehung mit dem die Welt erfahrenden Subjekt verwandelt, in einer Umgebung ohne geometrische Koordinaten.

Die Dinge besitzen keine Schwerkraft, sie schweben im Dunkel der Imagination. Gegenstände und Fragmente verteilen sich -  trotz des Auges, das nach einem spezifischen Zentrum verlangt - im Raum der Bilder auf exzentrische und unregelmäßige Weise, auf der Suche nach etwas Verbindendem, nach einem Grundprinzip, das ein Nebeneinander-Bestehen zulässt, die Mit-Möglichkeit widersprüchlicher Daseinsweisen. Im multidimensionalen Raum stehen die Weltdinge nicht in einer physikalisch-räumlichen Beziehung zueinander, sondern in einer neuen Verbindung, die ihrerseits neuartige Daseinsmöglichkeiten der Dinge selbst enthüllt. Der Gegenstand ist nicht allein, sondern Pol einer durch die räumliche Exzentrizität herausgestellten Beziehung, in der das Gesetz der Welt, das Kausalitätsprinzip, seine absolute Gültigkeit verloren hat, da „jene Kontinuität im Dasein eines individuellen Gegenstandes stets das Produkt einer vom erkennenden Subjekt ausgeführten Handlung ist und nie als eine Tatsache der objektiven Wirklichkeit erklärt werden kann“.[15] Es ist diese Erfahrung des Luftholens, eine Pause im nihilistischen Fluss der Zeit, die uns laut Vinci retten kann, allerdings unter der Bedingung, uns an die Dinge „für sich und nicht für uns selbst“ heranzutasten, zuzulassen, dass sie sich „in ihrer Einzigartigkeit und Geringfügigkeit zeigen, und das Zuviel an Gegenständen und Gerede, das uns umgibt, auszusetzen“.[16]




[1] Marco Vozza, Le forme del visibile: filosofia e pittura da Cézanne a Bacon, Florenz 1999, S. 23.
[2] „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar“, Paul Klee, Schöpferische Konfession, in: Tribüne der Kunst und der Zeit. Eine Schriftensammlung, hrsg. von Kasimir Edschmid, Berlin 1920.
[3] „Der Maler durchsteht eine Katastrophe oder eine Feuersbrunst und hinterlässt auf der Leinwand die Spur davon wie vom Sprung, der ihn vom Chaos zur Komposition führt“, Gilles Deleuze, Felix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt am Main 1996, S. 240.
[4] „Räumen ist Freigabe von Orten“, vgl. Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969.
[5] Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Frankfurt am Main 1987, S. 9.
[6] Vgl. Salomon Resnik, Spazialità e prospettive dell’esperienza estetica, in: L’avventura estetica. Prospettive sull’arte, Mailand 2002, S. 9-13.
[7] Paolo Vinci, Die Dinge Die Orte, in D. Del Mastro (Hrsg.), Fernanda Mancini. Der Raum die Dinge die Fragmente. Im Bereich des Heiligen, Stettin 2011, S. 23.
[8] M. Heidegger, Zollikoner Seminare, a.a.O., S. 16.
[9] Lorenzino Cremonini, Lo spazio della luce, Florenz 2005, S. 11.
[10] Erwin Panofsky, Die Perspektive als „symbolische Form". In: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924/1925, Leipzig & Berlin 1927, S. 123.
[11] Wolfgang Pauli, Naturwissenschaftliche und erkenntnistheoretische Aspekte der Ideen vom Unbewußten, in: Aufsätze und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie, Braunschweig 1961, S. 115.
[12] Paolo Vinci, Spazio e verità in Heidegger, in: Guido Coccoli, Anna Ludovico, Caterina Marrone (Hrsg.), La mente, il corpo e i loro enigmi: saggi di filosofia, Rom 2007, S. 372.
[13] Ebd.      [eigentlich aus den Zollikoner Seminaren]
[14] Paolo Vinci, Spazio e verità in Heidegger, a.a.O., S. 376.
[15] Paul Watzlawick, Die erfundene Wirklichkeit: wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München 1981.
[16] Paolo Vinci, Die Dinge Die Orte, a.a.O., S. 23.